— Oh nein, mein Lieber, wenn man mich demütigt und kleinmacht, räche ich mich! — sie weigerte sich, Mitleid mit den Verwandten ihres Mannes zu haben.

INTERESSANT

Anna stand am Fenster ihrer Wohnung und sah auf die belebten Straßen der Stadt hinab.

Vor sechs Jahren war sie aus Tula hierhergekommen, nur mit einem Koffer und dem festen Vorsatz, Karriere zu machen.

Damals hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie Dmitri treffen würde – einen charmanten Architekten aus einer angesehenen Familie, der ihr Ehemann und ihr Schlüssel zu einer Welt werden sollte, die ihr zuvor unerreichbar erschien.

Eine Welt, in der sie jedoch nie wirklich heimisch wurde.

— Anetschka, wir kommen zu spät! — rief Dmitri aus dem Flur. — Mama ist verärgert, wenn wir nach dem Mittagessen auftauchen.

Anna seufzte und nahm ihre Handtasche.

Die Familientreffen bei der Schwiegermutter waren eine wöchentliche Prüfung, die sie ihrem Mann zuliebe über sich ergehen ließ.

Galina Michailowna – eine herrische Frau mit scharfer Zunge und kaltem Blick – hatte ihre Abneigung gegen die Schwiegertochter nie verborgen.

Der ältere Sohn Igor arbeitete dank der Beziehungen von Onkel Boris längst in einem großen Unternehmen, und die jüngere Tochter Sweta hatte von demselben Onkel zur Hochzeit eine Wohnung geschenkt bekommen.

Nur Anna bat nie um etwas, obwohl Boris Michailowitsch ihr stets mit ehrlicher Teilnahme begegnete.

Boris Michailowitsch Sokolow, der jüngere Bruder von Dmitris verstorbenem Vater, war ein erfolgreicher Unternehmer, der sein Bauimperium aus dem Nichts aufgebaut hatte.

Er war allein – ohne Frau und Kinder –, unterstützte seine Neffen jedoch großzügig, schloss ihre finanziellen Lücken und erfüllte ihre Wünsche.

— Schon wieder dieses Kleid? — war Galina Michailownas erster Kommentar. — Konntest du nichts Anständigeres wählen? Wir wohnen schließlich nicht in Tula.

— Guten Tag, Galina Michailowna, — antwortete Anna ruhig, längst an solche Sticheleien gewöhnt.

— Wo ist denn Onkel Borja? — erkundigte sich Igor, während er den Tisch musterte. — Er wollte doch kommen.

— Er kommt nicht, — warf die Mutter kurz hin. — Schon wieder irgendwelche Untersuchungen. Sagt, es gehe ihm schlecht.

Anna wurde hellhörig.

In den letzten Monaten hatte Onkel Borja tatsächlich immer schlechter ausgesehen, doch er wimmelte jede Frage nach seinem Gesundheitszustand ab.

— Vielleicht sollte ich zu ihm gehen? — schlug sie vor.

— Du? — fauchte Sweta. — Wozu? Er kennt genug Ärzte. Er braucht keine provinziellen Sympathiebekundungen.

— Ja, Anetschka, — stimmte die Schwiegermutter ein, — kümmer dich besser um deine eigenen Angelegenheiten.

Übrigens, wie läuft es in deinem Job? Immer noch Managerin in irgendeiner Marketingbude?

— Ich bin jetzt stellvertretende Entwicklungsleiterin, — korrigierte Anna.

— Ach ja, stellvertretende Leiterin! — zog Galina Michailowna höhnisch die Stimme in die Länge.

— Wie konnte ich das vergessen. Unsere kleine Karrieristin macht Fortschritte.

Anna ballte unter dem Tisch die Hände zu Fäusten.

Diese Leute hatten keine Ahnung, wie viel Kraft und Zeit sie in ihre Laufbahn investiert hatte, wie sie sich in einem harten Wettbewerbsumfeld nach oben gekämpft hatte.

Für sie blieb sie eine „Fremde“, eine Zufallsfrau, die versuchte, sich an ihrem Wohlstand festzuklammern.

Nach dem Mittagessen machte Anna sich dennoch auf den Weg zu Onkel Borja.

Er wohnte in einem Eliteviertel, in einer geräumigen Wohnung, die eher einem Museum glich: überall standen Antiquitäten, hingen Gemälde, lagen alte Bücher.

— Anetschka! — freute er sich, als er die Tür öffnete. — Wie schön! Komm herein, meine Liebe.

Er sah wirklich schlecht aus: das Gesicht eingefallen, die Augen stumpf, die Hände zitterten leicht.

— Wie fühlst du dich, Onkel Borja? Ehrlich, — fragte sie, als sie sich neben ihn auf das Sofa setzte.

Nachdenklich blickte er sie an:

— Schlecht, Anetschka. Diagnose – viertes Stadium. Zwei, drei Monate noch, nicht mehr.

Ihr Herz zog sich zusammen.

Dieser Mann war für sie die einzige Wärmequelle in der Familie ihres Mannes.

— Wissen die anderen Bescheid?

— Nein. Ich will kein Theater aus Klagen und Wehgeschrei. Du weißt, wie sie Fürsorge vortäuschen, sobald es ums Erbe geht.

Anna nickte.

Sie erinnerte sich, wie Igor unter Tränen Geld für seine Steuerschulden gebettelt hatte, wie Sweta mehrfach täglich anrief und schluchzend Mittel für die Renovierung verlangte.

— Anetschka, darf ich dich bitten? — Onkel Borja nahm ihre Hand.

— Komm einfach ab und zu vorbei und bleib ein bisschen.

Es ist schwer, allein zu sein, und eine Pflegekraft möchte ich nicht. Fremde Leute mag ich nicht.

— Ich werde kommen, — versprach sie. — Jeden Tag nach der Arbeit.

— Nicht jeden Tag, mein Kind. Du hast dein eigenes Leben.

Aber manchmal … einfach reden mit jemandem, der in mir einen Menschen sieht, keinen Geldbeutel.

Die nächsten zwei Monate besuchte Anna Onkel Borja tatsächlich regelmäßig.

Sie sprachen über vieles: über Bücher, seine Jugend, ihre Träume.

Er erzählte, wie er sein Geschäft gegründet hatte, wie er bedauerte, nie eine Familie gegründet zu haben.

— Weißt du, Anetschka, — sagte er einmal, — früher dachte ich, Familie sei Blut.

Jetzt weiß ich: Familie sind die, die bei dir sind, wenn es dir schlecht geht.

Du bist die Einzige, die nicht wegen Profit kommt.

— Onkel Borja, und Dmitri? — versuchte sie einzuwenden.

— Dima ist ein guter Kerl, aber zu weich.

Er wird dich nicht vor seiner Mutter oder seinen Geschwistern beschützen. Und die hören doch nicht auf, dich zu verspotten, oder?

Anna schwieg, doch er verstand ohnehin alles.

— Wie töricht, — schüttelte der Onkel den Kopf.

— Sie erkennen einen echten Menschen nicht.

Sechs Jahre lang hast du nie etwas von mir verlangt. Kein einziges Mal. Und sie tun nichts anderes als bitten.

Ende November kam die Einweisung ins Krankenhaus.

Anna besuchte ihn täglich, blieb manchmal über Nacht.

Erst jetzt erfuhr Dmitris Familie von der Schwere seiner Krankheit und begann, an seinem Krankenbett öffentlich Trauer zu spielen.

— Onkelchen, — schluchzte Sweta, — Sie werden bestimmt gesund! Wir lieben Sie doch alle!

— Boris Michailowitsch, Lieber, — jammerte Galina Michailowna, — wie sollen wir ohne Sie sein?

Sie sind uns wie ein Vater!

Igor stand abseits, aber Anna bemerkte, wie er die ärztlichen Unterlagen genau studierte, um die Prognose zu verstehen.

— Hör zu, — flüsterte Onkel Borja, als sie allein waren, — morgen unterschreibe ich mein Testament. Alles geht an dich.

— Onkel Borja, das dürfen Sie nicht! — erschrak Anna. — Sie haben doch Neffen …

— Ich habe Neffen, die in den letzten Jahren nur eine Bank in mir sahen.

Und ich habe dich – den einzigen Menschen, der sich kostenlos um mich gekümmert hat.

— Aber sie werden dagegen sein! Dima wird es nicht verstehen …

— Du erklärst es. Oder auch nicht – das ist deine Sache.

Anetschka, nach siebzig Jahren habe ich eine Wahrheit begriffen: Geld soll der bekommen, der es verdient.

Und verdient hat es, wer nie darum gebeten hat.

Onkel Borja starb im Dezember, zwei Wochen nach der Einlieferung.

Die Beerdigung war pompös – die ganze Familie zeigte demonstrativ Trauer.

Anna stand abseits und trauerte still um ihren wahren Freund.

Eine Woche später wurde das Testament verlesen.

Die Notarin las einen kurzen Text vor: Sämtlicher Besitz von Boris Michailowitsch Sokolow – die Innenstadtwohnung, das Landhaus, zwei Autos und Bankkonten in enormer Höhe – gingen an Anna Wladimirowna Sokolowa.

Dichte, erdrückende Stille trat ein.

— Das ist unmöglich! — durchbrach Galina Michailowna sie als Erste.

— Ein Irrtum! Wir sind doch seine Verwandten!

— Das Testament wurde gesetzeskonform erstellt, — erklärte die Notarin ruhig.

— Boris Michailowitsch war bei klarem Verstand und fester Erinnerung, als er unterschrieb.

— Aber warum ausgerechnet sie? — schrie Sweta. — Sie ist doch eine Fremde!

Eine einfache Provinzlerin, die sich an unsere Familie geklammert hat!

Igor schwieg, doch sein Gesicht war vor Wut verzerrt.

— Anna, — sagte Dmitri, sobald sie das Notariat verließen, — du verstehst doch, dass Onkel krank war?

Vielleicht hat er nicht ganz begriffen, was er tat?

— Dima, er war geistig vollkommen klar. Wir haben oft darüber gesprochen.

— Aber das ist ungerecht! — erhob der Mann die Stimme.

— Wir sind seine Neffen! Ich bin sein Patenkind! Igor hat sogar seinen Sohn nach ihm benannt!

— Und? — entgegnete Anna kühl. — Sechs Jahre lang seid ihr nur mit Bitten zu ihm gekommen: Kredit, Renovierung, Auto …

Wer hat sich um ihn gekümmert, als er krank war? Wer hat mit ihm gesprochen? Wer hat einfach neben ihm gesessen?

— Du hast das alles absichtlich getan! — brüllte Sweta. — Ihm geschmeichelt, um das Erbe zu bekommen!

— Ich habe mich um ihn gekümmert, weil er gütig und menschlich war.

Der Einzige in eurer Familie, der mich nicht Provinzlerin oder Schmarotzerin nannte.

Dmitri packte ihr Handgelenk.

— Anja, Liebling, du verstehst doch – wir sind Familie.

Wir müssen teilen. Wenigstens ein bisschen. Igor hat eine Hypothek, Sweta Schulden, Mama auch Probleme …

Anna sah ihren Mann an – einen weichen, willenlosen Menschen, der sie in sechs Jahren nie vor seinen Verwandten verteidigt hatte.

— Nein, mein Lieber, — antwortete sie sanft, aber entschieden.

— Wenn man mich demütigt, kann ich mich rächen.

— Anna!

— Sechs Jahre, Dima. Sechs Jahre habe ich ihre Spötteleien ertragen.

Deine Mutter erzählte Gästen, wie ich mich an eure wohlhabende Familie „geklammert“ habe. Deine Schwester gab mir den Spitznamen „tul’sche Dummchen“. Dein Bruder sagte, ich hinge dir „am Hals“.

Und du hast geschwiegen.

— Aber ich habe dich geliebt!

— Liebe ohne Schutz ist keine Liebe.

Das ist Schwäche. Und jetzt, wo ich Geld habe, erinnert ihr euch plötzlich daran, dass ich Teil eurer Familie bin?

Galina Michailowna trat zu ihnen.

— Anetschka, Liebes, vielleicht hatten wir wirklich Unrecht. Aber jetzt können wir alles wiedergutmachen.

Wir sind doch Verwandte!

— Jetzt ist es zu spät, — antwortete Anna fest. — Onkel Borja hatte recht: Geld sollte der bekommen, der es verdient.

Und ihr habt nur meine Verachtung verdient.

Sie drehte sich um und ging zum Ausgang.

— Anna! — rief Dmitri ihr nach. — Wohin gehst du?

— Nach Hause. Sachen packen. Ich reiche die Scheidung ein.

— Wegen des Geldes? Du willst die Familie für ein Erbe zerstören?

Anna blieb stehen und drehte sich langsam um.

— Nein, Dima. Ich zerstöre das, was ihr lange vor dem Testament kaputtgemacht habt.

Eine Familie lässt sich nicht durch Geld zerstören – sie stirbt an Respektlosigkeit.

Einen Monat später zog Anna in Onkel Borjas Wohnung.

Sie kündigte ihre alte Stelle und gründete eine eigene Werbeagentur.

Dmitri rief an, bat sie zurückzukommen, versprach, sich zu ändern.

Doch es war zu spät.

Manchmal dachte sie an Onkel Borja und erkannte, dass er ihr nicht nur finanzielle Freiheit geschenkt hatte.

Er hatte ihr die Möglichkeit gegeben, sich endlich bedeutsam, respektiert, gebraucht zu fühlen.

Und vor allem hatte er gezeigt, dass Rache gerecht sein kann, wenn sie deine Würde schützt.

Onkel Borja hatte recht: Geld soll nicht der bekommen, der es fordert, sondern der, der niemals darum gebeten hat.

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