Eine Fremde übergab mir das Baby und verschwand

LEBENSGESCHICHTEN

. Siebzehn Jahre später stellte sich heraus, dass mein Adoptivsohn der Erbe eines riesigen Vermögens eines Milliardärs ist.

„Mein Gott, wer ist das bei so einem Schneesturm?“ Anna warf die Decke zurück und fröstelte, als die Kälte über ihre nackten Füße lief.

Ein Klopfen an der Tür wiederholte sich – beharrlich und fordernd.

Der Wind heulte draußen wie ein verletztes Tier und peitschte Schnee gegen die Scheiben.

„Bei diesem Wetter? Vielleicht habe ich mich geirrt?“ Ein neuer Schlag – lauter als der vorherige – ließ beide zusammenzucken.

„Nein, du hast dich nicht geirrt“, sagte Anna, nahm ihre Stola und ging zur Tür.

Die Petroleumlaterne warf flackernde Schatten an die Wände.

Der Strom war schon am Abend abgeschaltet worden – die Winter in Ustinowo waren immer hart, und das Jahr 1991 brachte nicht nur politische Veränderungen, sondern auch besonders grausame Frostperioden.

Die Tür ließ sich nur mühsam öffnen – sie war fast vom Schnee zugeschüttet.

Auf der Schwelle stand ein Mädchen, zart wie ein Schilfhalm, in einem eleganten dunklen Mantel.

In ihren Händen hielt sie ein Päckchen. Ihr Gesicht war verquollen vom Weinen, die Augen vor Angst geweitet.

„Bitte helfen Sie mir“, flüsterte sie zitternd.

„Man muss ihn verstecken. Passen Sie auf ihn auf… man will ihn loswerden…“ Bevor Anna etwas sagen konnte, trat das Mädchen vor und legte ihr das Paket in die Arme.

Es war warm.

Lebendig. Aus der Decke lugte das winzige Gesicht eines schlafenden Säuglings.

„Aber wer sind Sie? Was ist hier los?“ drückte Anna das Kind instinktiv an sich.

„Warten Sie!“ Das Mädchen war bereits in die Dunkelheit zurückgekehrt, und der Schneesturm verschluckte seine Silhouette in Sekunden, als hätte sie sich im Wirbel der Flocken aufgelöst.

Anna stand auf der Schwelle und spürte, wie Schneeflocken auf ihren Wangen schmolzen.

Ivan trat von hinten an sie heran und blickte über ihre Schulter: „Was zum…?“ Er verstummte, als er das Kind sah.

Sie sahen sich ohne Worte an, ohne Fragen.

Ivan schloss vorsichtig die Tür und schnitt sie von dem heulenden Sturm draußen ab. „Sieh es dir an“, flüsterte Anna und entfaltete behutsam die Decke. Ein Junge.

Sechs Monate alt, nicht älter. Rosige Wangen, volle Lippen, lange Wimpern.

Er schlief und schnarchte leise, als wüsste er nichts von der Kälte, der späten Stunde oder der seltsamen Übergabe aus fremder Hand.

An seinem Hals funkelte ein kleiner Anhänger mit dem eingravierten Buchstaben „A“.

„Mein Gott, wer könnte so ein kleines Wesen aussetzen?“ Anna spürte, wie Tränen ihr in die Kehle stiegen.

Ivan schwieg und betrachtete das Kind. In all den gemeinsamen Jahren hatten sie es nie geschafft, eigene Kinder zu bekommen.

Wie oft hatte er nachts das leise Weinen seiner Frau gehört? Wie oft hatten sie fremde Kinder mit schmerzverzerrtem Blick betrachtet?

„Sie sagte, man wolle es loswerden“, sah Anna ihren Mann an. „Ivan, wer will ein Baby loswerden?“

„Ich weiß es nicht“, strich er sich über sein borstiges Kinn. „Aber dieses Mädchen ist offensichtlich nicht von hier.

Sie sprach mit städtischem Akzent, und ihr Mantel war teuer…“ „Wohin konnte sie in diesem Schneesturm gehen?“ schüttelte Anna den Kopf.

„Kein Auto, kein Ton war zu hören…“ Plötzlich öffnete der Junge die Augen – klar und blau – und starrte Anna an.

Er weinte nicht, er erschrak nicht.

Er sah einfach, als bewerte er sein neues Schicksal. „Wir müssen ihn füttern“, sagte Anna entschlossen und ging zum Tisch.

„Wir haben noch Milch vom Abend.“

Ivan beobachtete, wie seine Frau eifrig vor dem Ofen stand, die Milch erwärmte, geschickt die Windeln prüfte und das fremde Kind zärtlich hielt – als hätte sie ihr ganzes Leben nichts anderes getan.

„Anna“, sagte er schließlich, „du weißt, dass wir das Dorfamt informieren müssen?

Vielleicht suchen sie nach ihm.“ Sie hielt inne und drückte das Baby fester an sich.

„Und wenn man es wirklich loswerden will?

Vielleicht bringen wir es damit in Gefahr?“ Ivan strich sich durch die Haare: „Lass uns zumindest bis zum Morgen warten.

Vielleicht meldet sich noch jemand.

Dann entscheiden wir weiter.“ Anna nickte und lächelte ihrem Mann dankbar zu. Der Säugling schlürfte leise an seiner warmen Milch mit einem Löffel Zucker.

„Wie meinst du, wie er heißt?“ fragte sie.

Ivan trat näher und berührte vorsichtig den Anhänger: „A… vielleicht Alexander? Sacha?“

Das Kind lächelte plötzlich zahnlos, als stimmte es der Namenswahl zu. „Sacha“, wiederholte Anna, und in ihrer Stimme lag all die Zärtlichkeit, die sich über die langen Jahre des Wartens angesammelt hatte.

Draußen tobte der Schneesturm weiter, doch im kleinen Dorfhaus am Rande Ustinowos wurde es wärmer.

Als hätte das Schicksal selbst die Schwelle überschritten und beschlossen, nicht wieder zu gehen. „

Na, was für ein Topfmeister hier heranwächst“, lächelte Ivan, während er beobachtete, wie der siebenjährige Sacha eifrig den Brei im Topf umrührte. „Bald wirst du mich übertreffen.“

Anna warf ihrem Sohn einen Blick zu, und ihr Herz schmolz vor Zärtlichkeit. Sieben Jahre vergingen wie ein Tag.

Jeden Morgen wachte sie mit dem Gedanken auf: Vielleicht holen sie ihn heute ab?

Aber die Jahre verstrichen, und das geheimnisvolle Mädchen kehrte nie zurück.

„Mama, darf ich saure Sahne?“ streckte Sacha seine Hand zur Tonschüssel.

„Natürlich, mein Kleiner“, rückte Anna die Schüssel näher. „Aber vorsichtig, verbrenn dich nicht.“

Es klopfte ans Fenster. Anna zuckte zusammen – die alte Angst war nicht verschwunden.

„Anka, komm raus! Die Kühe müssen rausgetrieben werden!“ rief die Nachbarin Zinaida.

Ich komme!“ rief Anna und richtete ihr Kopftuch. Sacha hielt inne beim Brei: „Darf ich mitkommen?

Ich spring später zum Fluss.“ „Hast du deine Hausaufgaben gemacht?“ fragte Ivan streng und verstaute seine Werkzeuge in der abgewetzten Tasche.

„Schon gestern“, antwortete der Junge stolz.

„Marija Stepanowna sagte, ich mache die besten Matheaufgaben im Dorf.“

Anna und Ivan sahen sich an. Sacha war aufgeweckt und lernbegierig.

Die Lehrerin hatte mehr als einmal gesagt, dass er eine bessere Schule brauche, Talent dürfe man nicht vergraben. „Geh nur“, nickte Anna. „Aber bleib nicht zu lange weg.

Zum Mittagessen musst du zu Hause sein.“

Sacha sprang fröhlich in den Hof. Ivan legte seiner Frau die schwere Hand auf die Schulter:

„Denkst du wieder daran?“ „Jeden Tag denke ich daran“, gestand sie. „Ich schaue ihn an und kann nicht genug bekommen.

Was, wenn…“ „Sieben Jahre sind vergangen“, schüttelte Ivan den Kopf. „Wenn sie ihn abholen wollten, hätten sie ihn längst gefunden.“

„Und dieser Anhänger?“ senkte Anna die Stimme, obwohl Sacha längst außer Sicht war.

„Ich nehme ihn manchmal heraus und schaue ihn an… der Buchstabe ‚A‘ und dieses Wappen.

Das ist kein bloßer Schmuck, Ivan.“ Ivan seufzte: „Warum weiter rätseln? Er ist unser Sohn.

Im Herzen unser Sohn.“ Anna schmiegte sich dankbar an ihren Mann. Das Dorfamt hatte ihrer Geschichte von der fernen Verwandten geglaubt, die das Kind nicht aufziehen konnte.

Die Papiere wurden schnell erledigt – in diesen schweren Zeiten stellte niemand zu viele Fragen.

„Maria hat Recht mit der Schule“, sagte Anna nach einer Pause. „Er ist wirklich begabt.

Vielleicht schicken wir ihn in die Kreisstadt zum Lernen? Dort gibt es Physik und Chemie…“

„Mit welchem Geld?“ runzelte Ivan die Stirn.

„Die Genossenschaft zahlt schon den zweiten Monat nicht. Wir bringen kaum die Runden herum.“

Anna senkte den Blick. Wünsche waren viele, Möglichkeiten wenige. Sie sparte jede Kopeke und nähte nebenbei, doch das Geld reichte nicht.

„Ich komme von der Farm – dann nähe ich ihm sein Hemd um“, sagte sie. „Aus deinem alten.

Er braucht es dringend.“ Ivan küsste sie auf die Stirn und ging hinaus.

Durch das Fenster sah Anna, wie er zum Traktor ging – gebeugt, vorzeitig gealtert.

Die schweren Jahre hatten ihn gebeugt, aber nicht gebrochen.

Abends saß Sacha am Tisch und stützte den Kopf in das zerlesene Schulbuch.

Die Petroleumlaterne warf gelbes Licht auf die Seiten – man sparte Strom und schaltete ihn nur selten an.

„Warum sehe ich nicht aus wie ihr?“ fragte er plötzlich, ohne vom Buch aufzusehen.

Anna erstarrte mit der halbfertigen Bluse in der Hand. Diese Frage hatte sie von Anfang an gefürchtet. „Was meinst du damit, mein Sohn?“ fragte sie sanft.

„Ihr beide habt dunkle Haare und ich habe helle“, hob Sacha die Augen – jene klaren, blauen Augen, die vor sieben Jahren aus der Decke starrten.

„Und Petka vom Nachbarhof sagt, ich sei gar nicht euer echter Sohn.“ Ivan legte die Zeitung beiseite: „Petka ist ein Dummkopf. Hör nicht auf ihn.“

„Aber ist das nicht wahr?“ ließ Sacha nicht locker.

„Bin ich ein Findelkind?“ Anna trat zu ihm und umarmte ihn an den Schultern: „Du bist kein Findelkind. Du bist unser Sohn.

Nur…“, sie stockte, suchte nach Worten, „wir haben dich nicht geboren, wir haben dich gefunden.

Und wir haben dich von dem Moment an geliebt, als wir dich das erste Mal sahen.“

„Wie im Märchen?“ neigte Sacha den Kopf. „Wie im Leben“, antwortete Ivan leise.

„Manchmal ist das Leben wunderbarer als jedes Märchen.“ Sacha schwieg, betrachtete seine Hände und umarmte dann plötzlich Anna:

„Trotzdem bist du die beste Mama der Welt.“ Anna schlang die Arme um ihn und spürte, wie Tränen in ihre Augen stiegen.

Über die Schulter ihres Sohnes blickte sie zu Ivan – er lächelte und wischte sich heimlich eine Träne mit der Hand hinweg.

In solchen Momenten schien ihr die Vergangenheit keine Bedeutung zu haben.

Was auch immer geschehen war – sie waren eine Familie.

Für immer.

„Und was hängt da an deinem Hals?“ bemerkte Sacha plötzlich und deutete auf die Kette, die Anna sonst unter ihrem Kragen versteckte.

Instinktiv bedeckte sie sie mit der Hand.

„Nur ein Schmuckstück.“

„Schreib erst noch deine Aufgabe fertig, und dann erzähle ich dir vor dem Schlafengehen eine Geschichte.“

Sacha nickte und wandte sich seinem Lehrbuch zu.

Er wusste noch nicht, dass dieser Anhänger mit dem Buchstaben „A“ normalerweise in einer Blechdose aufbewahrt wurde, die unter der Diele versteckt war.

Und dass dieses kleine Ding die einzige Verbindung zu seiner Vergangenheit war, die eines Tages zurückkehren könnte.

„Herzlichen Glückwunsch, Alexander!“ – der Schulleiter schüttelte dem jungen Mann fest die Hand, der auf der Bühne stand.

„Bester Absolvent der letzten zehn Jahre!“

Der Saal des Dorfklubs, geschmückt mit selbstgemachten Girlanden und Luftballons, brach in Applaus aus.

Sacha – groß, blond und mit demselben klaren Blick – lächelte verlegen und blickte zur ersten Reihe, wo Anna und Ivan saßen.

Anna wischte unbemerkt ihre Tränen weg.

Ihr Junge, ihr Schatz – ein Absolvent mit Goldmedaille.

Wer hätte in jener stürmischen Nacht gedacht, dass aus dem in Decken gewickelten Säugling ein so kluger Kopf werden würde!

„Danke“, nahm Sacha das Zeugnis entgegen und berührte behutsam die Goldmedaille an seiner Brust.

„Das ist das Verdienst meiner Eltern.“

„Sie haben immer an mich geglaubt.“

Ivan richtete seinen Rücken, straffte die Schultern.

Stolz erfüllte ihn – für diesen Moment hatte es sich gelohnt zu leben und all die Jahre bis zur Erschöpfung zu arbeiten.

Nach dem Festakt strömten die Absolventen nach draußen.

Sie ließen sich fotografieren, tauschten Pläne für die Zukunft aus und versprachen, sich nicht aus den Augen zu verlieren.

„Gehst du in die Stadt?“ fragte Petka, derselbe Nachbarsjunge, nun längst erwachsen.

Die kindliche Abneigung war längst in Respekt umgeschlagen.

„Ich muss die Unterlagen einreichen“, nickte Sacha.

„Ich möchte aufs Lehrerseminar.“

„Dann komme ich später zurück und unterrichte hier die Kinder.“

„Bleib doch in der Stadt“, klopfte Petka ihm auf die Schulter.

„Was soll man hier schon machen?“

Sacha lächelte nur.

Sie würden dieses Thema nie verstehen.

Die meisten Jugendlichen träumten davon, dem Dorf zu entkommen, und er… er wollte einfach nur den Menschen etwas zurückgeben, die ihn aufgezogen hatten.

Am Abend saß die Familie am festlich gedeckten Tisch.

Anna holte die kostbare Flasche Likör hervor, die sie für einen besonderen Anlass aufbewahrt hatte.

Ivan schnitt frisches Brot auf, das nach dem Dorfofen duftete.

„Auf dich, mein Sohn“, erhob Ivan sein Glas.

„Auf deine Zukunft!“

Sie stießen an, und Sacha spürte einen Kloß in der Kehle.

So viel Liebe, so viel Fürsorge…

Egal wie arm sie waren, er war immer von dem Wichtigsten umgeben – Wärme.

Das Geräusch eines herannahenden Fahrzeugs ließ alle erstarren.

Nach Ustinowo kamen selten Fremde, und abends zum Abschlussball schon gar nicht.

„Wer könnte das sein?“ zog Anna die Vorhänge beiseite.

Am Gartentor hielt ein schwarzer Geländewagen – glänzend, teuer, als käme er aus einer anderen Welt.

Ein Mann in einem eleganten Anzug stieg aus und ging, nachdem er sich umgesehen hatte, auf ihr Haus zu.

„Vielleicht hat er sich verirrt?“ vermutete Anna, doch ihre Stimme zitterte.

Das Klopfen an der Tür war bestimmt und geschäftsmäßig.

Sacha ging, um zu öffnen.

Auf der Schwelle stand ein etwa fünfzigjähriger Mann mit einer Mappe unter dem Arm und aufmerksamem Blick.

„Guten Abend“, sagte er.

„Ich suche Alexander…“ – er blickte auf die Unterlagen – „Ivanovich Kusnezow.“

„Das bin ich“, richtete sich Sacha auf.

„Wobei kann ich helfen?“

Der Mann musterte ihn, hielt kurz inne, als er sein Gesicht betrachtete:

„Mein Name ist Sergej Michailowitsch.“

„Ich bin Anwalt aus der Stadt.“

„Darf ich eintreten?“

„Ich habe eine wichtige Angelegenheit.“

Ivan trat zu seinem Sohn und legte ihm die Hand auf die Schulter:

„Herein, bitte.“

„Nur keine Umstände, sagen Sie gleich, worum es geht.“

Im engen Zimmer wirkte der Gast fremd – teurer Anzug, wertvolle Uhr, gepflegte Hände.

Er setzte sich an den Tisch und legte sorgfältig die Dokumente vor sich aus.

„Alexander“, begann er, „Sie sind nicht der, für den Sie sich halten.“

Anna sprang erschrocken auf:

„Was reden Sie da?“

„Bitte“, hielt der Anwalt sie mit einer Geste zurück, „hören Sie zu… das ist ein heikles Gespräch.“

Er wandte sich an Sacha:

„Tatsächlich bist du Alexander Below.“

Sohn von Nikolai Below und Enkel von Anton Grigorjewitsch Below, jenem, der „BelProm“ gegründet hat.

Den Namen sprach der Anwalt so aus, als müssten alle die Bedeutung verstehen.

Schweigen breitete sich im Raum aus.

Sacha fühlte, wie ihm der Boden unter den Füßen entglitt.

„Aber das kann nicht sein“, flüsterte er.

„Haben Sie Beweise?“ fragte Ivan scharf.

Der Anwalt öffnete seine Mappe:

„Kein Gentest nötig, ein Blick auf dieses Foto genügt“, legte er ein Bild eines jungen Paares auf den Tisch.

„Das sind deine Eltern – Nikolai Antonowitsch und Jelena Sergejewna Below.“

Sacha schluckte schwer.

Der Mann auf dem Foto war sein Ebenbild – dieselben Augen, dieselben Lippen.

„Die Wahrheit musst du wissen“, fuhr der Anwalt fort.

„Deine Eltern sind 1991 nicht mehr am Leben.“

Offiziell war es ein Unfall.

In Wahrheit jedoch ein gezielter Mord.

Rivalen hatten dein Großvaters Geschäft übernehmen wollen.

„Und ich?“ erklang Sachas Stimme dumpf, als käme sie von weit her.

„Gerettet hat dich deine Amme“, sagte der Anwalt und sah Anna und Ivan an.

„Sie hat ihr Leben riskiert, um dich in Sicherheit zu bringen.“

„Erfüllte den letzten Wunsch deiner Mutter.“

Wir haben dich all die Jahre gesucht, doch die Spuren verloren sich.

Dein Großvater engagierte die besten Detektive.

Anna verbarg ihr Gesicht in den Händen:

„Dann ist es wahr… sie sagte, man wolle ihn loswerden…“

„Warum jetzt?“ sah Sacha das Elternfoto an.

„Warum nicht früher?“

„Dein Großvater meinte, die Gefahr sei erst jetzt gebannt.“

„Die Rivalen sitzen im Gefängnis, die Beweise sind gesichert.“

„Nach dem Testament deines Großvaters bist du der alleinige Erbe eines Vermögens von 980 Millionen Rubel, vier Häusern, zwölf Betrieben und Aktien der Holding ‚BelProm‘.“

Sacha hob die Augen:

„Und Großvater?“

„Ist er noch am Leben?“

„Er lebt, aber ist sehr krank.“

„Er ist vor fünf Jahren erblindet.“

„Sein einziger Wunsch ist es, dich vor seinem Tod noch einmal zu sehen.“

Ivan ließ sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einen Stuhl sinken.

„Also bist du jetzt Millionär“, versuchte er zu lächeln, doch das Lächeln war krumm und schmerzhaft.

„Fahre also“, ermunterte er, „das ist deine wahre Familie.“

„Nein“, sprang Sacha auf.

„Meine wahre Familie seid ihr.“

„Ihr habt mich aufgezogen, geliebt und alles für mich gegeben.“

„Kein Geld der Welt ändert das.“

Er wandte sich an den Anwalt:

„Ich möchte meinen Großvater sehen.“

„Aber meine Eltern lasse ich nicht im Stich.“

Drei Tage später saß Sacha in einem hellen Krankenhauszimmer vor dem alten Mann mit den blinden Augen.

Anton Grigorjewitsch, majestätisch selbst im speziellen Rollstuhl, streckte zitternd die Hand aus und berührte das Gesicht seines Enkels.

„Du bist so wie Nikolai“, hauchte er.

„Ich erkenne diese Züge.“

„Auch ohne sie zu sehen, spüre ich sie.“

„Opa“, nahm Sacha seine Hand.

„Warum ist das alles passiert?“

Der Alte erzählte ihm alles: vom Ölgeschäft, von der gnadenlosen Konkurrenz, davon, wie sein Sohn und seine Schwiegertochter der Gier zum Opfer fielen.

Davon, wie die Amme verschwand, nachdem sie dich gerettet hatte.

„Ich dachte, ich finde dich in ein oder zwei Jahren“, sagte der Alte mit zitternder Stimme.

„Doch die Detektive kehrten stets mit leeren Händen zurück.“

„So viele Dörfer, so viele Familien…“

„Vera kannte nicht einmal den Namen des Dorfes, in das sie dich brachte.“

„Ihr Bus steckte im Schneesturm fest, und sie lief planlos weiter…“

„Gefunden haben sie dich erst zehn Jahre später, aber sie mussten warten.“

„Dann ist es Schicksal“, drückte Sacha seine Hand.

„Die besten Menschen der Welt haben mich gefunden.“

Ein halbes Jahr später kamen Arbeiter nach Ustinowo.

Dorfbewohner versammelten sich in Gruppen am Straßenrand und wunderten sich über die Veränderungen.

Gestern war hier noch eine holprige Straße, heute arbeiten bereits Walzen am Asphalt.

Wo früher herabhängende Drähte hingen, verlaufen nun neue Stromleitungen.

Auf der Weide, wo einst Ziegen grasten, steht plötzlich ein Sportplatz mit Reckstangen und Fußballfeld.

Zum Winter eröffnete eine neue Schule – mit großen Fenstern, hellen Klassenräumen, einer Bibliothek und modernem Computerraum.

Sacha, für das Wochenende aus der Lehranstalt angereist, durchschnitt feierlich das Band – ernst, selbstbewusst und ein wenig verlegen unter den Blicken der Dorfleute.

„Wir fangen gerade erst an“, sagte er und sah die bekannten Gesichter an.

„Ohne euch gäbe es mich nicht.“

„Alles, was ich tun kann, ist, es mehrfach zurückzugeben.“

Für Anna und Ivan baute er an derselben Stelle ein neues Haus.

Kein Herrenhaus – das hätten sie abgelehnt – sondern ein schlichtes, solides Haus mit großen Fenstern und modernem Ofen.

Mit einem Garten, in dem Anna von Frühling bis Spätherbst mit Rosen arbeitete, und einer Werkstatt für Ivan, in der er jederzeit schreinern konnte.

„Weißt du“, gestand Anna eines Tages beim Blumenpflücken, „ich dachte immer, das Schicksal führt dich zu uns und holt dich dann wieder.“

„Doch anscheinend hast du uns selbst erwählt.“

„Und bei uns geblieben.“

„Dem Herzen sieht man mehr an“, umarmte Sacha sie sanft.

„Es irrt sich nicht.“

Zu seinem zwanzigsten Geburtstag gründete er einen Fonds zur Unterstützung von Waisenkindern.

Er benannte ihn nach Anna und Ivan Kusnezow, trotz ihrer verlegenen Einwände.

Nachts, zurück in seiner Moskauer Wohnung, nahm Sacha zwei Dinge heraus: den kleinen Anhänger mit dem Buchstaben „A“, der in jener Winternacht bei ihm gewesen war, und das abgenutzte Halstuch, das Anna ihm zur Abreise in die Stadt geschenkt hatte.

Vorsichtig legte er beides nebeneinander.

Vergangenheit und Gegenwart.

Blut und Liebe.

Zwei Wege, die eins geworden waren.

Draußen rauschte die nächtliche Stadt, doch in Gedanken war Sacha dort, im stillen Dorf Ustinowo, wo das Schicksal ihn einst zur Tür seiner Familie geführt hatte.

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